Kommentar in der Vesper zum Evangelium

Mittwoch vor Erscheinung des Herrn |

Joh 1, 43-51

VESPER | MITTWOCH | 05.01.22

+ Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes

In jener Zeit 43wollte Jesus nach Galiläa aufbrechen; da traf er Philippus. Und Jesus sagte zu ihm: Folge mir nach!

44Philippus war aus Betsaida, dem Heimatort des Andreas und Petrus.

45Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs.

46Da sagte Natanaël zu ihm: Aus Nazaret? Kann von dort etwas Gutes kommen? Philippus antwortete: Komm und sieh!

47Jesus sah Natanaël auf sich zukommen und sagte über ihn: Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit.

48Natanaël fragte ihn: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen.

49Natanaël antwortete ihm: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!

50Jesus antwortete ihm: Du glaubst, weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah? Du wirst noch Größeres sehen.

51Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.

KOMMENTAR (Sr. Edith FMJ)


Seit Weihnachten gibt es keinen Tag ohne Begegnung.

Die Krippen, die jetzt noch in unseren Kirchen stehen, erzählen davon.

Von den Hirten heißt es, dass sie nach Betlehem eilten und das Kind in der Krippe sahen (Lk 2,17).

Von den Sterndeutern heißt es, dass sie sich mit dem Stern auf den Weg machten und schließlich das Kind und seine Mutter sahen (Mt 2,11).

Natürlich ist hier noch nicht die Rede von gegenseitiger Begrüßung und tiefschürfendem Dialog. Dafür ist das Kind noch viel zu klein. Aber, wenn wir genau hinhören, von dem kurzen Moment eines leisen, zarten, staunenden Sich-Anschauens. Noch ganz ohne Worte, aber wohl voller Licht und Wärme in den Augen.

Der leise Anfang einer Begegnung.

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (M. Buber).

*

Mit dem heutigen Evangelium machen wir einen enormen Sprung in der Zeit. Jesus ist nicht mehr das kleine Kind in der Krippe. Er weiß sich vom Vater gesandt und ruft Menschen in seine Nachfolge: Folge mir nach! Und man hat den Eindruck, dass sich plötzlich eine ungeheure Dynamik bahnbricht, denn der so von Jesus Gefundene und Gerufene wird selbst zum Rufenden: Wir haben gefunden! Komm und sieh!

Und doch und zuerst ist auch hier - vor aller Begeisterung, vor allem Kommen und Sehen, vor aller Aussendung ins Leben hinein - noch etwas anderes, ganz leise, fast unbemerkt, etwas absolut Erstes und Wunderbares: Jesus schaut den Menschen an. Schaut ihn liebend an – ohne gleich etwas von ihm zu wollen.

Schaut ihn an mit diesem klaren, frohen Blick des Uranfangs, den Gott, so heißt es, zu Beginn auf seine Schöpfung richtete: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“ (Gen 1,31).

Jesus schaut den Natanaël und den Philippus und den Petrus und wie sie alle heißen mögen und, ja, er schaut jeden und jede von uns genauso froh und liebend an, als wollte er sagen:

Noch bevor dich irgendwer zu irgendwas eingeladen oder gerufen hat, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen, das heißt: habe ich dich wahrgenommen, da, wo du mich vielleicht zögernd im Lesen der Schrift gesucht hast, wo du indirekt nach mir gefragt hast, wo du dich vielleicht vor mir versteckt hast, wo du möglicherweise versucht hast, langsam, in deinem Rhythmus, auf mich zuzugehen ...

„Nichts anderes ist dein Sehen als Lebendigmachen“, betete einmal der weise Nikolaus von Kues, „ich bin, weil du mich anschaust.“

Das zu glauben und immer wieder anzunehmen bedeutet, den Himmel offen zu sehen, aufrecht zu stehen, die Welt und die Menschen mit neuen Augen zu sehen.

Denn kein Tag vergeht, an dem mir nicht gesagt würde: Komm und sieh!

Dann aber geschieht zwischen seinem Blick und meinem Blick, was ich wirklich bin.

Und kein Tag wird ohne Gottesbegegnung sein.

Vielleicht manchmal ohne Engel, die auf- und niedersteigen.

Aber nie ohne wirkliches Leben.