11. IM HERZEN

DER STADT

128. “Steh auf und geh in die Stadt, dort wird man dir sagen, was du tun sollst.” [1]

Da eines der wichtigsten Kennzeichen unserer Zeit die Verstädterung mit ihrer Erscheinung der Großstädte ist, liegt ein Wesenszug deiner monastischen Berufung heute darin, städtisch zu sein. (...)

Die Stadt ist der Ort teilenden Betens und Liebens; sie ist die Erde am Ende der Zeit, die in ihrer Mitte den neuen Garten aufnehmen wird. [2] Liebe und betrachte in Stille das Geheimnis der Stadt. Gott selbst hat sie erwählt, auferbaut, errettet und geheiligt. In sie haben die Menschen all ihren Verstand, ihre Arbeit, ihren Glauben hineingetragen. Im Herzen der Stadt wirst du so im Herzen Gottes wohnen können, denn Gottes Herz enthält die Stadt. Bruder, Schwester, sei Mönch im Herzen der Stadt Gottes. [3]


129. (...) Darum sollst du im Herzen der Stadt einen zweifachen Kampf führen: kämpfe für Gott und gegen das Böse. Dort wirst du auch eine zweifache Gnade empfangen: die Begegnung mit Gott und die Reinigung von deinen Sünden. In der Stadt sollst du kämpfen und dich in liebender Stille aussetzen. Was die ersten Mönche einst in der Wüste suchten, wirst du heute im Herzen der Stadt finden.

Alles monastische Leben ist ein Kämpfen; Mönchtum in der Stadt ruft nach Kämpfenden Menschen. Jesus ist nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

(...)

130. Bewahre dir aber ebenso deinen Blick für die Schönheit und Heiligkeit der Stadt, in der Gott wohnt und die er dich hineingestellt hat. [4] Erhebe im Herzen der Stadt die beiden Hände des Lobpreises und der Fürbitte. Rufe jeden Tag neu seinen Segen auf sie herab. Preise den Allerhöchsten für alle Heiligen, die in ihr leben und sie heilig machen.

Angesichts von großer Vereinsamung und verzweifelter Verlassenheit lebe mitten unter deinen Brüdern und Schwestern eine wirkliche Einsamkeit, die die Gnade Gottes mit Freude erfühlt, eine wahre Gemeinschaft, die das Gebet über alle Trennung und Abwesenheit hinaus weit macht. Im Laufe der Zeit wird dich die Stadt erproben, sie wird dich reinigen und heiligen. Und wie Gott selbst wirst du sie liebend annehmen. Sie braucht dich ebenso wie du sie brauchst. Der Herr selbst kehrt zurück in die Stadt und will im Herzen Jerusalems wohnen! [5]

Immer schon gab es – und gibt es manchmal heute noch – Mönche, selbst Kartäuser, die im Herzen der Städte lebten. Dort beten sie mit dir. Dort beten sie für dich. Wie sie sollst auch du inmitten der Stadt mit ihr und für sie beten.

“Ihr aber, bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet!” [6]


131. Mehr als je zuvor ist in unserer Zeit eine neue Welt zum Vorschein gekommen, die gestern im wesentlichen ländlich, heute aber überwiegend städtisch geprägt ist. So antwortet dein Leben auf einen wirklich aktuellen und dringenden Ruf der Welt, der Kirche und Gottes selbst.

Sei davon überzeugt, dass das monastische Leben mit dem Phänomen der Stadt in unserer Zeit nicht unvereinbar ist.

Die Wüste ist heute ebenso in der Stadt. In der Nachfolge all der Zeugen, die nacheinander Juden mit den Juden, Griechen mit den Griechen, Gesetzlose mit den Gesetzlosen geworden sind, sei heute ein Städter mit den Städtern. [7]

(...) Im Herzen der Städte macht dich deine monastische Berufung gemeinsam mit deinen Brüdern und Schwestern und mit vielen anderen zu einem lebendigen und demütigen Zeugen des verborgenen Gottes.

Sei offen für alle Menschen guten Willens, die mit dir am Morgen, Mittag oder Abend eines jeden Tages Gott in der liebenden Stille begegnen wollen. Gott lädt hier jeden Menschen ein, ihn zu suchen, denn alle sind Miterben, Glieder des einen Leibes, die an der gleichen Verheißung in Christus Jesus durch das Evangelium teilhaben.




[1] «Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.» (Apg 9,6)[2] «Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.» (Offb 22,2)[3] «Gebückt kommen die Söhne deiner Unterdrücker zu dir, alle, die dich verachtet haben, werfen sich dir zu Füßen. Man nennt dich «Die Stadt des Herrn» und «Das Zion des Heiligen Israels.» (Jes 60,14)[4] «Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein.»(Offb 21,3)[5] «So spricht der Herr: Ich kehre zurück nach Zion und wohne wieder in Jerusalem. Dann wird Jerusalem «Stadt der Treue» heißen und der Berg des Herrn der Heere "Heiliger Berg".» (Sach 8,3)[6] «Aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben.» (Lk 24,49)[7] «Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen war ich sozusagen ein Gesetzloser - nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi -, um die Gesetzlosen zu gewinnen.» (1 Kor 9,20-21)