6. MÖNCH SEIN

50. Die Berufung der Brüder und Schwestern von Jerusalem ist monastisch.

Unser erstes Ziel liegt nicht zunächst in der Suche nach einem gemeinschaftlichen, apostolischen, priesterlichen oder caritativen Leben, sondern in der Sehnsucht, gemeinsam als Brüder und Schwestern in der Tiefe unseres Herzens Mönch zu werden.

Dieses monastische Leben erkämpfst du dir nicht, du musst langsam dort hineingeboren werden. Auch wenn dich der Geist, der alles neu macht, dazu bewegt, in Freiheit dein Leben zu leben, [1] kannst du nicht den unendlichen Reichtum an Überlegung und Erfahrung, an Weisheit und gelebter, überlieferter Heiligkeit derer übersehen, die uns umgeben oder uns vorausgegangen sind. Im wesentlichen ist dein Weg daher vorgezeichnet, und die Kirche lädt dich ein, ihm zu folgen.

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51. (...) Gott erwartet heute von uns, dass wir selbst durch unser sündiges Leben die Tradition ungezählter heiliger Leben verlängern; denn auch wir sind von einer unendlich großen Wolke von Zeugen umgeben. [2]

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54. Das monastische leben ist ein Dasein vor Gott.

Wir sind eingetaucht in ein großes Geheimnis: Vor uns, in uns, über uns hinaus ist Einer. Gott ist. Er ist da, und er spricht. Er spricht zu dir, und du lebst in seiner Gegenwart. Der Mönch bemüht sich, in der Gegenwart dieser Person zu leben, die die Person schlechthin ist: Sie ist das “Du”, dem sich seine ganze Liebe zuwendet, und zugleich das “Ich”, das sich zuerst aus reiner Liebe an ihn richtet.

Gott hat dich bei deinem Namen gerufen, und du wagst es, ihn bei seinem Namen zu rufen. [3]

Du weißt deinen eigenen Namen in seine Hände eingezeichnet [4] und lässt den Herrn seinen göttlichen Namen auf deine Stirn schreiben, sein Gesetz an deine Hand binden. [5] Bruder, Schwester, für den Mönch ist alles allezeit und überall von dem Geheimnis dieser Allgegenwart erhellt, die all sein Reden, Denken und Handeln verklärt. Alles ist für ihn Geschenk. Alles ist Ikone Gottes. Nichts und niemand lässt sich dieser Liebe vorziehen, nichts ist profan, alles ist geheiligt – nicht in sich heilig , aber gottgeweiht. Die geringste Kleinigkeit, der unbedeutendste Augenblick, jedes Ereignis öffnet auf diese Gegenwart hin und lädt zur inneren Sammlung ein. Beziehungen, Begegnungen werden so verwandelt, erhellt von diesem Licht und für diese Klarheit transparent. Den ganzen Tag über ist alles von Segen umgeben; Zeit und Raum werden neu geheiligt. Alle Dimensionen deines Lebens werden so wie aufgelöst, eingeschmolzen und wieder neu zusammengefügt, um im Feuer Gottes neu Einheit zu finden.

Wenn du wirklich Mönch bist, ist Gott alles für dich. (...)


77. Ein Wort umfasst den Ort, zu dem hin dieses Abenteuer der Heiligkeit aufbricht: das Herz.

Wo anders sollte der Schatz des Mönchs sein, wenn nicht in der Tiefe seines Herzens? [6] Im Tiefsten deiner selbst weitet sich ein Raum, der dir innerlicher ist, als du dir selber bist, ein Raum, den du nicht ohne die Erlaubnis dessen betreten kannst, der ihn schon bewohnt. Den Weg dorthin findest du nur mit großer Mühe, in dem Licht einer großen Lauterkeit und am Ende einer völligen Entäußerung. Dort hat Gott den Funken des Göttlichen hineingelegt, den du in dir trägst: das Bild seines Antlitzes, das dich als sein Abbild geschaffen hat; die Quelle lebendigen Wassers, die sich in dir zu unendlichem Leben verströmt.

Gott hat dein Herz groß genug gemacht, um ihn darin aufzunehmen. [7] Dein Herz, das wirklich den umfasst, den das Weltall nicht umfassen kann, ist darum größer als das Weltall. In dir wohnt der Schöpfer der Welt und mit ihm die ganze Welt!

Von dieser Offenbarung ergriffen und fasziniert, bemüht sich der Mönch mit aller Kraft darum, in die Tiefe seines Herzens hinabzusteigen. Er weiß, dass die wahre Pilgerschaft des Menschen die innere ist; er weiß dass es in ihm einen Ort gibt, an dem sich Ursprung und Ende, Zeit und Ewigkeit berühren, dort, wo das Unsterbliche noch vor der Erschaffung der Welt in ihn eingezeichnet wurde, um in seiner Liebe lebendig zu bleiben. [8] Er weiß, dass inmitten dieses Ackerfeldes eine kostbare Perle verborgen liegt. Und in seiner Freude geht er los, alles hinter sich lassend, um diesen Acker umzupflügen.


78. Du bist Gottes Ackerfeld, Gottes Bauwerk. [9] Darum soll sich deine ganze Existenz danach ausstrecken, diesen Schatz zu finden. In Wahrheit, das Himmelreich ist in dir selbst. [10] Suche zuerst, suche einzig das Himmelreich, das in der Tiefe deines Herzens verborgen liegt, und alles andere wird dir im Übermaß dazugeschenkt. [11] Bruder, Schwester, der Mönch ist jemand, dem Gott genügt, weil er dieses begriffen hat.

In deinem Herzen findest du den kürzesten Weg zu den anderen. In deinem Herzen erfährst du dich dem Allerhöchsten am nächsten. In deinem Herzen entdeckst du, was dir das Persönlichste, aber auch das mit allen Gemeinsame bleibt. Wenn du tief in dein Herz hinabsteigst, wirst du das Allumfassende berühren. Dort ist dein Leben von nun an mit Christus im Herzen des Vaters verankert. Dort auch ist es im Herzen der Welt am meisten für Gott verleiblicht. [12] Dort wirst du erkennen, wie sehr alle anderen in der vollkommenen Einheit des einen Gottes deine Brüder und Schwestern sind.



[1] «Wenn wir aus dem Geist leben, dann wollen wir dem Geist auch folgen.» (Gal 5,25)[2]«Da uns eine solche Wolke von Zeugen umgibt, wollen auch wir alle Last und die Fesseln der Sünde abwerfen. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist.» (Hebr 12,1)[3] «Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich.» (Joh 10,14)[4] «Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mauern habe ich immer vor Augen .» (Jes 49,16)[5] «Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden .» (Dtn 6,8)[6] «Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.» (Mt 6,21)[7] «Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.» (Dtn 30,14)[8] «Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern - wie auf Tafeln - in Herzen von Fleisch.» (2 Kor 3,3)[9] «Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau.» (1 Kor 3,9)[10] «Selbst den Staub eurer Stadt, der an unseren Füßen klebt, lassen wir euch zurück; doch das sollt ihr wissen: Das Reich Gottes ist nahe.» (Lk 10,11)[11] «Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.» (Mt 6,33)[12] «Durch ihn haben wir beide in dem einen Geist Zugang zum Vater.» (Eph 2,18)