30. Sonntag im Jahreskreis A






Welches Gebot des Gesetzes ist das wichtigste? | Mt 22,36

+ Aus dem Evangelium nach Matthäus (22,34-40)

In jener Zeit, 34als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie am selben Ort zusammen. 35Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn versuchen und fragte ihn: Meister, 36welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? 37Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. 38Das ist das wichtigste und erste Gebot. 39Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 40An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Predigt (Br. Jean-Tristan FMJ)

In der Basilika von Vézelay im Burgund kann man ein sehr schönes romanisches Kapitell betrachten, die sogenannte „mystische Mühle“.

Es bildet eine Mühle ab, die ein Rad in Gang bringt.

Die Speichen dieses Rades bilden ein Kreuz.

Links und rechts von der Mühle stehen zwei Figuren gegenüber.

Die linke Figur trägt einen großen Sack voller Körner und schüttet ihren Inhalt in den Trichter der Mühle hinein.

Diese Figur stellt Mose dar, und sein Sack steht für die schwere Last des Gesetzes.

Die Körner werden in der Mühle aufgebrochen, d.h. durch das Kreuz Christi.

Sie werden nicht gemahlen, um vernichtet zu werden, sondern damit sie das unter der äußeren Spelze verborgene Mehl enthüllen können.

Dieses so enthüllte Mehl symbolisiert das neue Gesetz, das Gesetz der Liebe, das Jesus durch seinen Tod und seine Auferstehung geoffenbart hat.

Die Mühle wirft dieses Mehl aus und Paulus, auf der rechten Seite des Kapitells zu sehen, fängt es sorgfältig mit einem Sack auf.

Diese Szene ist eine sehr gute Erläuterung für das heutige Evangelium.

ein Gesetzeslehrer, wollte Jesus versuchen und fragte ihn: Meister,

welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?

Diese Frage ist berechtigt.

Um sie zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass es für einen Juden nicht nur 10 sondern 613 Gebote gibt - damals wir heute.

Schon zur Zeit Jesu hatten nämlich Rabbiner alle in der Bibel niedergeschriebenen Gebote gezählt und sie in einer Liste von 613 sogenannten Mitzwot festgelegt.

Diese Mitzwot teilen sich auf in 365 Verbote, entsprechend der Zahl der Tage im Jahr, und 248 Gebote, entsprechend der Zahl der menschlichen Körper-Glieder, wie damals in der talmusischen Anatomie beschrieben.

Diese 613 Gebote regeln bis ins kleinste Detail das gesamte soziale und religiöse Leben eines frommen Juden.

Wie kann man sich nun aber in diesem Labyrinth zurechtfinden?

Gibt es eine Hierarchie innerhalb dieser Ver- und Gebote?

Jedem Gesetzeslehrer war es eine innere Verpflichtung, seinen Jünger die Mizwa, das Ge- oder Verbot an die Hand zu geben, das alle anderen erklären würde.

Und dieses Gebot würde sozusagen die Eingangstür für das Labyrinth sein.

So sagte beispielsweise der große Rabbiner Hillel, quasi ein Zeitgenosse Jesu:

„Was dir verhasst ist, das füge auch deinem Nächsten nicht zu. Das ist das ganze Gesetz. Alles Übrige ist Erläuterung.“

So ist die an Jesus gerichtete Frage zwar eine berechtigte, aber auch eine gefürchtete.

Denn die Auswahl eines besonderen Gebotes als wichtigstes Gebot wird dem ganzen Gesetz unweigerlich eine besondere Richtung geben.

Das wissen die Pharisäer ganz genau, deshalb stellen sie ihm diese Fangfrage.

Und weh demjenigen, der das Gesetz nicht so interpretiert wie sie!

So steht Jesus vor dem schweren Sack voller Körner des Kapitells von Vézelay.

Welches der 613 Körner wird er sich aussuchen?

Wenn Sie die Liste der 613 Gebote lesen, werden Sie entdecken, dass nur drei von der Liebe sprechen.

Zuerst das Gebot der Gottesliebe, dann das der Nächstenliebe und schließlich das der Fremdenliebe.

Ohne Zögern greift Jesus in den Sack des Gesetzes Mose und sucht sich eben zweidieser drei Gebote aus, die von Liebe sprechen.

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken – lautet das Gebot im Buch Deuteronomium.

Und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, so das Gebot aus dem Buch Levitikus.

„Du sollst lieben“, das ist das Herz des Gesetzes, das Jesus offenbart.

Die Liebe soll der Kompass im Labyrinth unseres Lebens sein.

Aber, so werden Sie vielleicht fragen: Bringt Jesus hier wirklich etwas Neues?

Immerhin ist die Gottesliebe doch die erste Pflicht eines frommen Juden?

Ist sie nicht das erste der zehn Gebote?

Und in gleicher Weise: Ist die Nächstenliebe nicht eine der Säulen des jüdischen Glaubens?

In der ersten Lesung aus dem Buch Exodus ermahnt Gott sein Volk mit ganzer Kraft, den Fremden mit Achtung zu begegnen und erinnert es daran, dass es selbst in Ägypten in der Fremde war. Er sagt ihm auch, dass es eine heilige Pflicht ist, den Armen, den Witwen und den Waisen zu Hilfe zu kommen.

Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid, so sagt er.

Es stimmt, dass Jesus anscheinend nichts Neues bringt.

Er scheint die zwei Körner unversehrt in den Sack der Mizwot, der jüdisch Gesetze zurückzuwerfen, ohne sie in die Mühle zu geben.

Worin besteht dann hier das neue Gesetz?

Wenn die zwei Gebote auch alt sind, die radikale Neuheit besteht darin, dass Jesus sie zu einem Gebot zusammenführt.

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.

Das ist das wichtigste und erste Gebot.

Ebenso wichtig ist das zweite:

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Ebenso wichtig ist ein wenig schwach.

Im griechischen Originaltext heißt es „homoios“, d.h. „ähnlich“.

Die Gottesliebe hat den Vorrang, aber sie ist der Nächstenliebe ähnlich.

Denn der Christ kann seine Gottesliebe nur an der Nächstenliebe prüfen,

wie Johannes sagt:

Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. 1 Joh. 4, 20

Umgekehrt wird die Nächstenliebe eines Christen wachsen können, indem er Gott immer mehr liebt.

Wirkliche Gottesbegegnung geschieht in der Nächstenliebe.

Wirkliche Begegnung mit dem Bruder, mit der Schwester geschieht in der Gottesliebe.

Das ist das neue Gesetz, das Jesus offenbart.

Jesus hat sich aber nicht damit begnügt, dieses neue Gesetz zu offenbaren, er hat es inkarniert, es mit Fleisch und Blut gelebt.

Keiner hat Gott mehr geliebt als er.

Keiner hat seinen Nächsten mehr geliebt als er.

Er hat diese beiden Gebote der Gottes- und der Nächstenliebe verwandelt in seinen Leib und in sein Blut.

Deshalb können wir uns ohne Furcht ihm als Mittler anvertrauen, denn er ist der Weg.

Vielleicht schaffen wir es nicht, Gott, den Vater zu lieben, wenn unser Bild von unserem irdischen Vater zu sehr belastet ist.

Vielleicht schaffen wir es nicht, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst, wenn wir es nicht vermögen, uns selbst zu lieben.

Nur Mut.

Jesus ist unser Mittler.

Bitten wir ihn flehentlich, dass Er die Liebe in uns sein möge.

Brüder und Schwestern, lassen wir uns auf diese Erfahrung ein.

Wenn wir jemanden wirklich nicht lieben oder einer Person nicht verzeihen können, bitten wir den Herrn mit gläubigem Vertrauen, dass er jenen Menschen für uns und in uns lieben und ihm verzeihen möge.

Wir werden dadurch die Erfahrung machen, dass unser Herz sich allmählich einer Liebe öffnet, die uns nach menschlichem Ermessen unmöglich schien.

Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt

Herr Jesus, du hast dein Leben am Kreuz hingegeben - aus Liebe zu deinem Vater und zu uns.

In dir wurde die harte Spelze des Gesetzes gemahlen und aus deiner durchbohrten Seite entsprang die Liebe, wie das pure Mehl der „mystischen Mühle“ von Vézelay.

Dieses Mehl ist Brot geworden und wird sich gleich an diesem Altar in Deinen Leib verwandeln.

Herr, gib uns immer dieses Brot! Joh 6, 34

Möge es uns wachsen lassen in der Gottesliebe und in der Nächstenliebe.

Amen